Neuroinklusion scheitert in fast jedem HR-Prozess
Oct 14, 2025
Neuroinklusion scheitert in fast jedem HR-Prozess
Die meisten HR-Strukturen basieren auf einer neuronormativen Annahme: dass alle Menschen Reize gleich verarbeiten, in denselben Strukturen performen und auf dieselbe Weise kommunizieren.
Das Problem? Mindestens 20% der Belegschaft funktionieren anders.
Onboarding, Feedbackgespräche, Meetingstrukturen, Performance-Dialoge. Fast jeder Prozess ist auf eine soziale Norm kalibriert, die neurodivergente Menschen systematisch ausschließt. Nicht aus böser Absicht. Sondern aus Design-Ignoranz.
Xenia Matthies, Wirtschaftspsychologin und Vordenkerin für nervensystembasierte Führung, bringt es auf den Punkt: "Neuroinklusion ist kein Defizit-Modell. Es ist ein strukturelles Design-Problem."
Und die versteckten Kosten? Massiv.
Die Rechnung, die keiner sehen will
In Deutschland gehen 15% aller Arbeitsausfälle auf psychische Erkrankungen zurück. Die durchschnittliche Krankheitsdauer liegt bei 36 Tagen. Dreimal länger als bei körperlichen Erkrankungen.
Das kostet die deutsche Wirtschaft jährlich 200 Milliarden Euro. 4,5% des BIP.
Aber es geht nicht nur um Abwesenheit. Es geht um Talentabwanderung, Dysregulation und Innovationsverlust. Teams mit neurodivergenten Mitarbeitenden sind bis zu 30% produktiver. JPMorgan Chase berichtet von 90 bis 140% höherer Produktivität bei Mitarbeitenden aus ihrem Neurodiversitätsprogramm.
Wenn Du 20% Deiner Belegschaft systematisch daran hinderst, ihr volles Potenzial zu entfalten, verlierst Du nicht nur Menschen. Du verlierst Performance.
Neurodivergente als Frühscanner
Matthies beschreibt neurodivergente Menschen als "Frühscanner". Sie erkennen, wo Strukturen unklar, Reize auf Dauer ermüdend und Kommunikation ineffizient ist.
Ein Beispiel aus ihrer Praxis: Bei der Begehung eines neu gebauten Campus fiel ihr sofort auf, dass die installierten Deckenlichter in einer Frequenz und Helligkeit eingestellt waren, die auf Dauer die Augen aller reizt. Die weißen Tische und Schränke verstärkten das frequenzstarke Licht zusätzlich.
Das Licht warf beim Arbeiten von oben den eigenen Schatten vierfach. Bei schnellen Bewegungen wirkt das wie ein Trigger auf die Amygdala.
Matthies bemerkte es sofort. Die Gruppe, die bereits in den Räumen gearbeitet hatte, erst nach dem Hinweis: "Ja, stimmt. Irgendwas war anders."
Das ist kein Einzelfall. Neurodivergente Menschen scannen Umgebungen anders. Sie spüren strukturelle Probleme früher. Wenn HR diese Signale ignoriert, ignoriert es einen kostenlosen Diagnosemechanismus.
Spiky Profiles statt Durchschnittslogik
Ein weiteres Problem: Lineare Leistungsmessung.
Klassische HR-Systeme bewerten Konstanz, Ausgeglichenheit und Reproduzierbarkeit. Sie gehen von einem "durchschnittlichen" Fähigkeitsniveau aus.
Neurodivergente Menschen haben oft "Spiky Profiles". Ausgeprägte Spitzen in bestimmten Bereichen, kombiniert mit Schwächen in anderen. Ein Mensch kann außergewöhnlich komplexe Systeme verstehen, aber in administrativen Routinen überfordert sein.
Das ist kein Defizit. Das ist ein Muster.
Wenn Unternehmen diese Spikes glätten wollen, verlieren sie den größten Performance-Hebel. Kreative Durchbrüche, innovative Strategien und systemisches Denken entstehen nicht aus Gleichmäßigkeit. Sie entstehen aus Differenz.
Die Quick-Win-Checkliste für HR
Die gute Nachricht? Es braucht keine komplette Neugestaltung. Kleine Anpassungen erzielen große Wirkung.
Hier sind fünf sofort umsetzbare Hebel:
1. Mid-Year-Reviews neu denken
Schicke das bereits ausgefüllte Review vorab an den Mitarbeiter. Gib ihm Zeit zur gezielten Vorbereitung. Biete nach dem Gespräch zusätzliche Verarbeitungszeit an. Ermögliche eine Portfoliobewertung statt linearer Leistungsmessung.
2. Meeting-Labels einführen
Walking Meetings, Brainstorming-Meetings, Camera-on- oder Camera-off-Meetings. Klarheit über Format und Erwartungen reduziert kognitive Last.
3. Kommunikation präzisieren
Vermeide den "therapeutischen Plural". "Das müssen wir tun." Wer ist wir? Unklar. Ineffizient. Besser: Wer, was, bis wann, warum, in welcher Form.
4. Stellenausschreibungen überarbeiten
Trenne Muss- und Soll-Anforderungen sauber. Reduziere Jargon. 76% der neurodivergenten Jobsuchenden fühlen sich durch traditionelle Rekrutierungsmethoden benachteiligt.
5. Reizarme Arbeitsumgebungen schaffen
Fokuszonen, Lärmreduktion, anpassbare Lichtquellen. Was neurodivergente Menschen brauchen, verbessert die Arbeitsumgebung für alle.
Messbarkeit statt Buzzwords
Neuroinklusion ist keine Haltung. Sie ist messbare Infrastruktur.
Matthies hat dafür die NeuroInclusion Scorecard (NIX) entwickelt. Sie misst auf drei Ebenen: People (Erleben), Leadership (Verhalten), System (Prozesse).
People-Ebene: Selbstwirksamkeit, Sense of Agency, Selbstregulation.
Leadership-Ebene: 1:1-Qualität, Meeting-Hygiene, Co-Regulation.
System-Ebene: Stellenausschreibungen, Onboarding, Accommodation-SLA.
Ziel ist nicht, eine einzige Kennzahl zu haben. Sondern ein Dashboard aus Leading- und Lagging-Indikatoren, das zeigt, ob die Infrastruktur funktioniert.
Retention, Time-to-Productivity, Abwesenheitstage, Innovationsrate. Das sind die Outcome-KPIs, die beweisen, ob Neuroinklusion als Performance-Hebel wirkt.
Nervensystembasierte Infrastruktur für 100%
Der entscheidende Shift: Neuroinklusion ist kein Nischenprogramm für 20%.
Es ist ein Performance-Upgrade für 100%.
Wenn Du Strukturen baust, die nervensystemfreundlich sind, profitiert die gesamte Belegschaft. Klarere Kommunikation, reizärmere Umgebungen, flexiblere Arbeitsweisen. Das sind keine Sondermaßnahmen. Das ist gutes Design.
Matthies formuliert es so: "Wir hören auf, nach linearen Standards zu messen. Und beginnen, Umfelder zu gestalten, in denen Spikes wirken dürfen."
Denn Zukunftsperformance entsteht nicht durch Durchschnitt. Sie entsteht durch Diversität in der neuronalen Architektur.
HR sitzt im Spannungsfeld zwischen rigiden Policies, veralteten Kulturnormen und starren Gesetzen. Gerade deswegen müssen HR-Professionals verstehen, was Neuroinklusion und Nervensystem wirklich bedeuten.
Damit sie das tun können, wofür sie da sind: die Schnittstelle zwischen Mensch und Unternehmen vertreten. Und beide Seiten gut beraten.
Erkennen. Verstehen. Handeln.
Über Xenia Matthies
Xenia Matthies ist Wirtschaftspsychologin (B.A.), systemische Beraterin (M.A.) und Vordenkerin an der Schnittstelle von Gesellschaft, Psychologie und Nervensystem.
Mit 15 Jahren Erfahrung in HR- und Wirtschaftsfunktionen hat sie eng mit C-Level-Führungskräften und Management zusammengearbeitet. Ihre eigene späte Diagnose als neurodivergente Frau prägt ihre Perspektive: Sie verbindet persönliche Erfahrung mit wissenschaftlicher Tiefe und unternehmerischem Know-how.
Heute ist sie eine der führenden Stimmen für Neuroinklusion, mentale Gesundheit und nachhaltige Führung im deutschsprachigen Raum.
Mit ihren Frameworks NeuroSynergy®, B|New® und I.Z.E.N. macht sie mentale Gesundheit und Selbstführung für Einzelpersonen, Teams und Organisationen steuerbar.
Als Framework-Entwicklerin, Speakerin und Autorin gestaltet sie die Debatte über Arbeit, Gesundheit und Führung neu.
Weiterführende Ressourcen
Neuroinclusion Playbook
Praxisnahe Tools und Frameworks für die Implementierung neuroinclusive Infrastruktur in Deiner Organisation.
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Trainings & Workshops
Maßgeschneiderte Trainings für C-Suite, HR-Teams und Führungskräfte zu Neuroinklusion, nervensystembasierter Führung und Co-Regulation.
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